Die Osteopathie kennt Lösungen für viele gesundheitliche Probleme. Selbst für chronische Darmerkrankungen wie Reizdarm bietet das Behandlungskonzept Methoden an, mit denen sich die Beschwerden lindern lassen. Wie das geht und welche Übungen Sie selbst im Alltag ausführen können, erfahren Sie im Folgenden.
Die Osteopathie ist durch eine sehr individualisierte Annäherung an den Patienten gekennzeichnet. So behandelt sie weniger eine Krankheit – sondern die Behandlung ist ganz auf die Eigenheiten des Patienten und seinen Lebenskontext abgestimmt. Das bedeutet beispielsweise, dass zehn Patienten mit scheinbar gleichen Reizdarmsymptomen, möglicherweise zehn völlig unterschiedliche Behandlungen erfahren. Während in einem Patienten die nervale Versorgung des Darmes im Vordergrund steht, könnte im anderen die Körperhaltung, das Immunsystem, der Kiefer oder die Motorik des Darmes im Fokus stehen. Ziel der Behandlung ist die Interaktion und Verbesserung der Anpassungsfähigkeit mit Hilfe der fünf Modelle der Osteopathie. Diese sind:
• die Biomechanik der Körperhaltung und Bewegung
• das Atmungs- und Herzkreislaufsystem
• das System des Stoffwechsels, dem Immun- und Hormonsystem
• das Nervensystem mit dem Gehirn, dem peripheren und autonomen Nervensystem
und biopsychosoziale Anpassungen.
In der Osteopathie wird nicht nur die betroffene Region behandelt, sondern häufig auch weit entfernte Regionen, eben weil diese möglicherweise die Darmfunktion beeinträchtigen. Beispielsweise könnte eine aufrechtere Haltung oder die Stimulation des Vagusnervs die Nervenversorgung des Darmes verbessern. Auch eine vertiefte Atmung kann den Verdauungstrakt positiv beeinflussen. Verbesserte Körperhaltung, Atmung und Vagusnervstimulation könnten auch gemeinsam wirken, um das Erleben starker belastender Emotionen etwas zu mindern, was sich wiederum auf den Darm auswirken könnte. Es sind also keine linearen Kausalketten, die hier im Vordergrund stehen. Osteopathen führen eine Vielzahl von Interventionen durch, die jede für sich genommen vielleicht kaum wahrnehmbare Effekte erzielt, in ihren Interaktionen und Wechselwirkung auf jedoch scheinbar wundersame Weise eventuell eine deutlich wahrnehmbare Verbesserung der Symptome bewirken können.
Bei welchen Arten von Darmbeschwerden empfiehlt sich die Osteopathie besonders?
Osteopathie empfiehlt sich besonders bei funktionellen Erkrankungsbildern und chronischen Störungen, die nicht lebensbedrohlich sind und bei denen keine pathologische Gewebeveränderung stattgefunden hat und die nicht auf eine einzige Ursache wie zum Beispiel ein Bakterium zurückzuführen sind.
Bei vielen funktionellen Darmerkrankungsbildern, in denen viele Faktoren ineinanderwirken und keine Gewebepathologie ursächlich gefunden werden konnte, kann eine osteopathische Behandlung – gegebenenfalls in Kombination mit anderen Methoden – helfen, wie zum Beispiel bei Reizdarm, funktionellen Bauchschmerzen, Druckgefühl, Verstopfung, Durchfall, Erbrechen, kindlichen Bauchkoliken und Stillproblemen bei Neugeborenen.
Ist es möglich durch Osteopathie Reizdarm-Beschwerden zu lindern?
Einige Studien geben Hinweise, dass Osteopathie bei Reizdarm Beschwerden helfen könnte. So zeigte eine Studie von Florance et al., dass eine osteopathische Behandlung der Organe im Vergleich zu einer Massagetherapie deutlich positivere Effekte auf die Reizdarmsymptomatik hatte. Ebenso zeigte eine randomisierte Crossoverstudie von Attali und Kollegen aus 2013, dass globale und lokale Vibrationstechniken der Organe Reizdarmsymptome wie Verstopfung, Durchfall, Diarrhoe, abdominelles Aufgeblähtsein, Bauchschmerzen und rektale Schmerzempfindlichkeit verbessern konnten und diese Verbesserungen auch ein Jahr später noch anhielten.
Eine sehr genaue Anamnese gibt Aufschluss über mögliche Risikofaktoren, die sich im Laufe des Lebens summiert haben können, bis schließlich der Patient Symptome eines Reizdarmes zeigt. Diese individuelle Risikoanalyse ist unverzichtbar, denn sie sind für jede Krankheit etwas anders gelagert. Dies kann manchmal ganz bis zur Geburt oder sogar Schwangerschaft zurück gehen. Wir wissen heute, dass bestimmte Umstände in der Schwangerschaft, das Risiko an bestimmten Krankheitsbildern zu erkranken, stark erhöhen. Die Informationen der Anamnese sind wesentlich, da das Beseitigen dieser Risikofaktoren durch Änderungen im Lebensstil die Heilung ermöglichen.
Während der gesamten Konsultation ist die Aufmerksamkeit außerdem auf die Haltung, Gestik und Mimik des Patienten gerichtet, da diese einen großen Aufschluss über mögliche Einflussfaktoren für die jeweiligen Beschwerden geben. Daran schließt die Untersuchung an.
Bevor die Behandlung mittels osteopathischer Berührung beginnt, wird dem Patienten sehr genau erklärt, welche Faktoren möglicherweise zu seinen Symptomen geführt haben, sodass ihm verständlich wird, dass er eine Kontrolle über die Symptome wiedererlangen kann. Wird ihm dies wirklich bewusst, hat damit bereits die Heilung begonnen und er wird meist auch motiviert sein, seinen Teil beizutragen.
Schließlich beginnt die Behandlung durch die Kunst der osteopathischen Berührung. Hier bediene ich mich bei unterschiedlichen lokalen Behandlungsansätzen und Techniken. So kann ich beispielsweise den gesamten Körper in eine heilende Vibration versetzen und dann wieder ganz exakt eine Arterie oder einen Nerv oder eine Organverbindung unterstützen und so ihre Gleitfähigkeit, Elastizität, Dichte, Spannung oder Beweglichkeit verbessern.
Sollte ich mit meinen Händen einen Zug in eine bestimmte Richtung bemerken, beispielsweise vom Querkolon zum Magen, prüfe ich die Position des Magens, seine Form, Spannung, Volumen, Dichte, Beweglichkeit und seine Arterien, Venen, Lymphgefäße und nervalen Innervationen, seine Relationen zur Wirbelsäule und zu Muskeln, zur Statik und natürlich die Aufhängungen und Gleitfächen, zum Beispiel vom Magen zum Dickdarm.
Sollten bei der Abtastung von Gewebespannungen auch eine gewisse emotionale oder neurovegetative Erregung im Patienten auftreten, würde ich auch diese in die Behandlung einbeziehen. Es ist eine sehr individuelle Behandlung. Ich behandele weniger den Reizdarm, sondern vielmehr den Patienten, der Reizdarmsymptome zeigt.
Allerdings sind auch weitere Befunde wichtig und deshalb ist eine interdisziplinäre Zusammenarbeit für den Behandlungserfolg wesentlich. So kann beispielsweise auch ein Mangel an Beta-Glucuronidase oder eine Dünndarmfehlbesiedelung (SIBO) bei Reizdarm beteiligt sein. Diese sind nicht durch eine osteopathische Behandlung allein zu verändern. Ebenso ist bei Reizdarm zu untersuchen, ob eine orale Supplementierung von Pankreasenzymen zu empfehlen ist.
Eignen sich die osteopathischen Therapiemethoden auch für Kinder und Säuglinge?
Eine Übersichtsarbeit von Dobson et al kommt zu dem Schluss, dass Eltern signifikant weniger Weinen bei ihren Kindern bemerkten, wenn diese osteopathisch behandelt wurden, auch wenn es insgesamt zu wenig gut gemachte Studien gibt, um klar beurteilen zu können, inwieweit Osteopathie hilft.
Meine persönliche Erfahrung ist, dass eine manuelle osteopathische Behandlung alleine oder in Kombination mit anderen Methoden wie zum Beispiel einer Mikrobiomunterstützung sehr oft Verdauungsprobleme und Weinen bei Babies reduziert oder behebt. Sollte es allerdings nach drei, spätestens vier Anwendungen keine Besserung geben, würde ich nicht empfehlen, weiter zu behandeln. Auch zeigten osteopathische Behandlungen eine Verbesserung bei kindlicher Darmentleerung und bei kindlicher Verstopfung. Die osteopathische Behandlung von Frühgeborenen scheint außerdem das hohe Auftreten von Magen-Darm-Symptomen und eine überlange Verweildauer auf der Frühgeborenen-Intensivstation zu reduzieren sowie die Ernährung zu verbessern.
Welche Übungen kann man selbst anwenden, um seine Verdauung zu beruhigen?
Viel Bewegen, eine freie Atmung und eine ausgewogene, gemüsereiche Ernährung hilft der Verdauung im Allgemeinen. Der Bauchraum kann auch entspannt werden, in dem mit der Ausatmung der Ton O gebildet wird und dabei die Aufmerksamkeit auf den Raum in der Bauchregion gerichtet wird.
Zur Beruhigung des Darmes können beide Hände beidseitig auf den Bauchraum um den Nabel herum gelegt werden, sodass die Daumen sich berühren, und die Hände ein nach unten gerichtetes Dreieck bilden. Drei- bis sechsmal kann leicht betont in die Hände geatmet werden. Vielleicht können durch die Hände auch die Bewegung des Darmes während der Atmung gespürt werden. Man spürt dies wie eine Senkung und nach vorn gerichtete Bewegung während der Einatmung und eine nach oben und hinten gerichtete Bewegung während der Ausatmung. Am Ende können die Hände Wärme und Energie in den Darm lenken, indem mit den Händen den minimalen Darmbewegungen gefolgt wird.
Wo liegen die Grenzen der Osteopathie?
Osteopathie sollte nicht bei Erkrankungsbildern angewendet werden, die durch pathologische Gewebeveränderungen gekennzeichnet sind, wie beispielsweise ein Dickdarmkarzinom oder ein Zwölffingergeschwür. Auch akute bakterielle Darmerkrankungen oder lebensbedrohliche Darmerkrankungen wie ein Darmverschluss, eine Darmblutung oder eine Appendizitis sollten nicht osteopathisch behandelt werden. In diesen Fällen ist unbedingt sofort eine medizinische Behandlung erforderlich.
Herzliche Grüße
Katrin Arnold-Nagler
Osteopathin D.O. VFO
Quelle: www.digestio.de/de/specials/interviews/torsten-liem-osteopathie-reizdarm-verdauung